Fernando Amado Aymoré

Der Beitrag der „deutschen“ Jesuiten zum Barock und zur „brasilianischen“ Kultur im kolonialen Amazonien

Der Beitrag der „deutschen“ Jesuiten zum Barock und zur „brasilianischen“ Kultur im kolonialen Amazonien
Johann Moritz Rugendas. Jesuitenmönch im Dorf der Tapuyos. In: Malerische Reise in Brasilien (1839). Faksimile, 1986

Die Geschichtswissenschaft besteht aus der  systematischen Zerstörung von Mythen. Die Landkarte des zeitgenössischen Brasiliens, mit ihren von der europäischen Immigration ins brasilianische Kaiserreich und in die alte Republik gesetzten Zeichen, mit Städten und Regionen unverwechselbarer Namen, wie Novo Hamburgo, São Leopoldo, Treze Tílias, Blumenau, Nova Pomerânia oder Nova Friburgo, lässt uns an die Legende glauben, dass die Anfänge der deutsch- brasilianischen historischen Beziehungen nur im Süden und Südosten des Landes zu finden sind. Weit gefehlt.

Eine andere, gewöhnliche Legende, ist der Glaube daran, dass der Kultureinfluss eine Einbahnstraße sei, die ständige Übertragung fertiger Produkte, wie beim Import-Export, wo es Lieferanten und Abnehmer gibt, wie beim Erwerb von Erdöl oder beim Transport von Naturgas, mittels jener gigantischen, interkontinentalen und unsichtbaren Pipelines: Produzenten und Lieferanten hier, Käufer und Abnehmer dort. Niemals. Kultur kann man nicht liefern. Kultur ist das Ergebnis von Antagonismen, das, was von einem ständigen Konflikt übrig bleibt. Niemals fertig. Stets in Wallung.

Die Definition einer „deutschen“ und „brasilianischen“ Nationalität, die diesem Essay den Titel verleiht, kann der rigorosen Methode der Geschichtswissenschaft ebensowenig standhalten. Diese Kategorien, bis heute im Wesentlichen vage und nebulös geblieben, verdanken ihre Entstehung dem Prozess der Herausbildung des modernen Staates, des laizistischen und hegemoniellen Nationalstaates, im Verlauf des 19. Jahrhunderts. In der kolonialen Epoche, in der das historische Erbe entstand, welches hier präsentiert werden soll, waren solche Definitionen einer „deutschen“ oder „brasilianischen“ Kultur den Protagonisten völlig unbekannt. Der Titel des Essays ist deshalb ein Widerspruch, den der Autor selbst bereitwillig eingesteht, da es vor der Herausbildung des Nationalstaates nicht einmal eine Grundidee dessen gab, was eine „deutsche“ oder „brasilianische“ Kultur war. Beide Nationen gab es nicht einmal als Projekt. So erklärt sich der relativierende, indes unverzichtbare Gebrauch der Anführungsstriche.

Die historischen Akteure der Kolonialzeit trugen andere Etiketten. Sie definierten sich durch ihre lebenslangen Berufe, als Bauern, Soldaten, Händler, Landbesitzer oder Priester, wenn sie nicht Sklaven waren. Der wichtigste Gegensatz indessen,  der während  der europäischen Expansion in die Neue Welt „Spreu“ vom „Weizen“ zu trennen half, war derjenige zwischen „Zivilisierten“ und „Barbaren“ und vor allem derjenige zwischen „Christen“ und „Heiden“.

Dieser fundamentale Antagonismus begründet die vom religiösen Unternehmen der Gesellschaft Jesu in beiden Erdteilen gleichzeitig gespielte Rolle. Sowohl Europa als auch die Neue Welt durchlebten ähnliche und zeitgleiche Transformationsprozesse. Die Gesellschaft Jesu, präsent und aktiv auf beiden „Seiten“, gestattet uns einen hervorragenden Zugang zur zeitgleichen Realität der „deutschen“ und der „brasilianischen“ Kultur in der Vormoderne, abseits  der späteren Stereotypen.

Was ist die „Gesellschaft Jesu“? Die Jesuiten, Mitglieder der Societas Jesu, eine bis heute existierende Organisation, waren auf ihrem Höhepunkt eine Art “Phänomen Google” des 16. und 17. Jahrhunderts. Ohne Übertreibung.

Die Gesellschaft Jesu wurde von Ignatius von Loyola, einem Ex-Soldaten aus Navarra, im spanischen Baskenland, konzipiert, der nach einer erlittenen, tiefen Kriegswunde im Bett lag und Visionen über den wahren religiösen Lebensweg bekam. Er schrieb daraufhin ein intimes  Meditations- und Gedankenübungshandbuch unter dem Titel Exercitia Spiritualia (Geistliche Übungen). Nach seiner Genesung ging Ignatius nach Paris, um Theologie zu studieren. Dort gründete er 1534 die „Gesellschaft Jesu“, begleitet von einer kleinen Gruppe von sieben Jugendlichen, allesamt, wie er, Theologiestudenten, die sich als die christliche  Avantgarde ihrer Zeit sahen. Mit starker Inspiration von den iberischen Sozialbewegungen, die in die Restauration des katholischen Glaubens münden sollten, der von Luther, Kalvin, Melanchton, Zwingli und von zahlreichen anderen, kleineren protestantischen und reformistischen Kräften, die es damals überall gab, arg bedroht wurde, erhielt die kleine jesuitische Avantgarde die päpstliche Genehmigung (Approbatio) im Jahr 1540, was ihnen den offiziellen Status eines Ordens gab, unter dem Schutz und der Förderung der römischen Kirche, dem Papst direkt unterstellt. Als Orden ohne Kloster oder Mönchskleidung, ohne Routine oder gemeinsamen Chor, allein durch die gleichen abstrakten Ideale, durch die Praxis der „Geistlichen Übungen“ und durch eine effiziente und vertikale Organisation nach militärischem Muster geeint, expandierten die Jesuiten, mit schwindelerregender Geschwindigkeit, in nur wenigen Jahren in die ganze Welt.

Die Jesuiten definierten sich als Aktivisten. Wie diverse andere Reformbewegungen ihrer Zeit, verteidigten sie die Christozentrik, das Verlangen nach moralischer Reinigung des Geistes, die Selbstzensur, die Pädadogik, die humanistische Bildung und die Ethik der organisierten und produktiven Arbeit. Im Jahre  1549, nur fünfzehn Jahre  nach ihrer Gründung und nur neun Jahre  nach der päpstlichen Genehmigung, war die Gesellschaft Jesu gleichzeitig in allen Kontinenten mit denselben Methoden tätig, an voneinander so entfernten Orten wie Rio de Janeiro, Rheinland und Japan.

Ruhm in der brasilianischen Geschichte erlangte das Theater des seliggesprochenen Jesuiten José de Anchieta (1534-1597), der in einem Sprachgemisch aus Tupi, Portugiesisch und Spanisch Theaterstücke bei den indigenen Gemeinschaften zwischen 1583 und 1597 inszenierte. Diese Dramen brachten den Indios die bedeutendsten Geschichten der Bibel, das Leben der katholischen Märtyrer und vor allem die Passion Christi bei. Das Werk Anchietas besteht aus zwölf katechetischen Theaterstücken, unzähligen Briefen und einigen Predigten, die vom Alltag in den Missionen, von Kollegsgründungen, indianischen Bräuchen und kriegerischen  Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und Portugiesen um die Vorherrschaft der Küste von Rio de Janeiro berichten. Anchieta starb 1597 in einem Dorf des heutigen brasilianischen Bundesstaates Espírito Santo, welches heute seinen Namen trägt.

Heute wissen wir, dass dieses Beispiel kein isolierter Einzelfall der „Geistlichen Eroberung“ Brasiliens war. Das „brasilianische“ Katechesetheater war Teil eines globalen Kontextes, in dem viele zeitgenössische Mitstreiter Anchietas dasselbe in anderen Erdteilen taten. Das zeitgleiche Katechesetheater der portugiesischen Missionare in Japan, unter der Führung des Jesuiten Luís de Fróis (1570-1600), war eines der reichhaltigsten in Asien und mischte sich mit dem japanischen Volkstheater Kabuki.

Ein anderes Beispiel, unserer interkulturellen Thematik von Brasilien und Deutschland  näherstehend, war das Kinder- und Jugendtheater der Jesuiten in den rheinländischen Katechismusschulen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden „Katechismusschulen“ für Kinder und Jugendliche unterhalb des Gymnasialalters errichtet, die von Nonnen geleitet wurden, die ihrerseits die jesuitische Doktrin angenommen hatten, nämlich die „Devotessen“ und die „Ursulinen“. Dem Beispiel Anchietas bei der Katechese der curumins, der Indiokinder, in der allgemeinen Sprache Tupi im kolonialen Brasilien folgend, wurden die deutschen Theaterstücke durch Anchietas Mitstreiterinnen im lokalen rheinischen Dialekt dargestellt. Die Geschichten erklärten den deutschen Zuschauern aus dem Bauernstand, in ihrer eigenen Sprache, wie die katholischen Tugenden von den Jesuiten nach Übersee gebracht worden waren, deren wichtigste Exponenten die jüngst heiliggesprochenen Ignatius von Loyola und Franz Xaver (der erste Jesuitenmissionar Asiens) waren, und wie dieselben katholischen Tugenden, dem aus den Klauen der lutherischen „Häresie“ geretteten Rheinland, endlich zurückgebracht worden waren. Unter den überseeischen Missionen, welche die rheinländischen Bauernkinder bewundern durften, befanden sich, wohl kaum zufällig, auch die Reiche von „Brasilien“ und „Japonien“, die bei diesem Event als personifizierte Gestalten auftraten und den Heiligen für ihre Taten dankten.

Die Mischung des Katechesetheaters, des Straßentheaters des Barockkatholizismus, mit dem lokalen Kolorit und Dialekt, gebar womöglich das Phänomen des Straßenkarnevals, bekanntlich katholischen Ursprungs, der bis in unsere Tage die Kultur der Partnerstädte Rio de Janeiro und der alten rheinländischen Stadt Köln mitbestimmt.

Die Reichweite der vormodernen historischen Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland ist aber damit noch nicht zu Ende. Wir sagten gleich zu Beginn, dass die Anfänge der deutschen Präsenz in Brasilien sich nicht auf die Gründungen der Immigranten im Süden und Südosten des Landes beschränkten. In der Tat. Es wird wenig darüber berichtet, dass die Gesellschaft Jesu, dieses multinationale und dynamische Unternehmen der Vormoderne, auch „deutsche“ Missionare ins koloniale Brasilien entsandte, insbesondere in das „andere“ Brasilien, in den Estado do Grão-Pará e Maranhão, dessen Hauptstadt Santa Maria de Belém do Grão-Pará war, eine Konkurrenz zu São Salvador da Bahia de Todos os Santos, Hauptstadt des Estado do Brasil. Damals war Brasilien zweigeteilt und besaß zwei Hauptstädte: Salvador und Belém.

Wer waren diese „deutschen“ Jesuiten, die, von Belém ausgehend, im Amazonien des 17. Jahrhunderts tätig waren? Der Begriff „deutsch“, wie gleich zu Beginn zugegeben, ist irreführend. Gemeinsam war diesen Missionaren  allein die Tatsache, dass sie der Deutschen Assistenz der Societas Jesu angehörten, die sich durch ganz Zentraleuropa im 17. und 18. Jahrhundert erstreckte, von Holland, Belgien und Luxemburg bis zu den heutigen Gebieten Deutschlands, der Schweiz, Österreichs, Ungarns, der Slowakei, der Tschechischen Republik, Polens und Kroatiens. Sie schloss größtenteils das Reich der vormaligen Dynastie der Habsburger, sowie auch die Territorien des vergangenen „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation” ein. Sie waren „deutsch“ in diesem Sinne, der nichts mit den aktuellen Staatsangehörigkeiten zu tun hat.

Wir wissen heute, dass ungefähr dreißig Jesuitenmissionare aus diesen zentraleuropäischen Gebieten im kolonialen Amazonien tätig waren. Unter diesen Missionaren  waren Apotheker, Tischler, Maurer, Maler, Musiker, Dramaturgen, Kartographen und sogar Astronomen, die die starke Tradition der Zünfte nach Amazonien und Brasilien brachten. Wer sich mehr für die Biographien und Werke der “deutschen” Jesuiten in Amazonien interessiert, sei auf  das Werk von Aymoré/Meier 2005 verwiesen.

Hier werden, in aller Kürze, nur zwei repräsentative Fälle vorgestellt: Johann Philipp Bettendorff (1625-1698) und Anselm Eckart (1721-1809). Der aus Luxemburg stammende Bettendorff, ein Jesuit der gallo-belgischen Ordensprovinz, war einer der wichtigsten Ethnographen und Chronisten des Estado do Grão-Pará e Maranhão. Eingeladen nach Maranhão vom berühmten Antônio Vieira, wurde Bettendorff selbst Superior, das heißt, Oberer der Missionen von Amazonien zwischen 1668 und 1674. Sein literarisches Werk schließt  zweisprachige  Katechismen (auf Portugiesisch und Tupi) ein, die für die brasilianischen Linguisten sehr wichtig geworden sind, und eine detaillierte Chronik auf Portugiesisch, die heutzutage eine der wichtigsten primären  Quellen zur Geschichte des kolonialen Amazoniens ist: Crônica dos Padres da Companhia de Jesus no Estado do Maranhão, zwischen 1694 und 1698 geschrieben, aus der Retrospektive der Fakten von den Ursprüngen  der Missionen in Amazonien bis zum Ende des 17. Jahrhunderts.

Das zweite Beispiel ist Anselm Eckart, ein Jesuit aus Mainz. Er kam 1753 nach Belém do Pará, wirkte in den Missionsdörfern entlang der Flüsse Xingu und Madeira und wurde 1757 aus Pará auf Befehl des Marquis von Pombal vertrieben, der die Jesuiten im ganzen portugiesischen Königreich verfolgte. Eckart verbrachte eine Zeit in einem Lissaboner Gefängnis, wurde aber freigelassen und kehrte 1777 ins Rheinland zurück, wo er in Bingen eine zurückgezogene literarische Tätigkeit bis 1797 entfaltete. Die napoleonische Invasion des Rheinlands verursachte Eckarts Flucht nach Russland. Er starb 1809 im heutigen Weißrußland.

Wie zahlreiche Jesuiten, hinterließ auch Eckart Grammatiken und Katechismen in der Sprache Tupi, der Landessprache im kolonialen Brasilien, welche damals noch viel indigener war als lusitanisch. Der gelehrte Christoph Gottlieb von Murr, ein Enthusiast seines Werkes, veröffentlichte 1778 in Nürnberg Eckarts Werk Grammatik und Wortschatz der Landessprache Tupi (Gramática e o Vocabulário breve da Língua Geral do Brasil, Specimen Linguae Brasiliae Vulgaris). Eckart wirkte auch als Kartograph und hinterließ eine Karte der Region Maranhão aus dem Jahr 1754, basierend auf Vorarbeiten seines ungarischen Mitstreiters, Johann Nepomuk Szluha.

Doch das Werk Anselm Eckarts, welches unsere größte Aufmerksamkeit wegen seines ethnographischen Umfangs verdient, sind dessen „Zusätze zu Pedro Cudenas Beschreibung der Länder von Brasilien“, 1785 auf Deutsch erschienen auf Geheiß von Christoph Gottlieb von Murr, unter dem Titel Reisen einiger Missionarien der Gesellschaft Jesu in Amerika. Für die Ethnographie der Tupi-Völker besitzt dieses wenig rezipierte Werk von Eckart einen wichtigen Stellenwert, indem es, in einer weniger nach Sensation heischenden Sprache, die Berichte der iberischen Jesuiten und die Pionierwerke des 16. Jahrhunderts von Hans Staden, André Thevet oder Jean de Léry ergänzt und aktualisiert.

Worin besteht die historische  Bedeutung dieser zeitgleichen Beispiele der „deutschen“ und „brasilianischen“ Vormoderne? Das Katechesetheater der Jesuiten in Brasilien und der Ursulinen im Rheinland wandte sich nicht an die akademische Elite. Es wurde auf den Straßen gespielt und zog ganze Dörfer und Städte in seinen Bann. Es verwendete die Volkssprache der Illiteraten. Es war ein theatralisches Ritual.

Die stereotypische Charakterisierung der Indios als „gemeines Volk“, intellektuell unterlegen und kindisch, unterschied sich nicht wesentlich  vom  Diskurs der Eliten über diejenigen Bauern  in Europa zur selben Zeit, die dem Theater  der Ursulinen beiwohnten. Amerikanische Indios und europäische Bauern wurden in den Briefen, Chroniken und Berichten der Missionare als unwissend, grob, primitiv, abergläubisch und tierisch beschrieben. Die empfohlenen Korrekturmethoden, die sie zur Ordnung und zum zivilisierten christlichen Leben führen sollten, waren dieselben, sowohl in Europa als auch in den Überseemissionen: die ständige, rigide Erziehung, kombiniert mit überwachter Arbeit auf dem Acker. Diese Schlussfolgerung gilt sowohl für die Katechese der  Überseemissionen als auch für diejenige der rheinländischen Provinzen. Es handelte sich um ein anspruchsvolles, didaktisches Projekt:  die konfessionelle Umerziehung der örtlichen Jugend durch die Katechese, egal ob die „heidnische“ Jugend der brasilianischen  Indios oder der Japaner, oder die „häretische“ der rheinländischen Lutheraner.

Die einfache Feststellung einer zeitgleichen Anwesenheit von Missionaren derselben multinationalen Unternehmung, derselben katholischen „Gesellschaft“, in voneinander so weit entfernten Weltregionen – wie Amazonien, Rheinland und Ferner Osten – ohne jegliche vorherige kulturelle Verbindung miteinander, eröffnet dem Leser Raum für eine vertiefte  Reflexion über das, was womöglich das erste Beispiel einer globalen Kulturbewegung war: der Barock, mit seinen Konflikten, Widersprüchen und Reaktionen, die sich in der Lyrik, im Theater und in den darstellenden Künsten all dieser Regionen präsent zeigten – zur selben Zeit.