Marlen Eckl

„Ich suchte eine Zuflucht, und ich fand eine Heimat... “ – Das deutschsprachige Exil in Brasilien, 1933-1945

„Ich suchte eine Zuflucht, und ich fand eine Heimat... “ – Das deutschsprachige Exil in Brasilien, 1933-1945
Gemälde von Walter Lewy. Privatbesitz Eckhard E. Kupfer

„In diesem jungen Erdteil, in dem die Menschen mehr vorwärts als rückwärts schauen, kann sich der Einwanderer aus Europa wegen der weitgehenden persönlichen Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten durchaus wohl fühlen. So haben meine Frau und ich ein neues ‚Zu Hause‘ gefunden“, stellte Max Hermann Maier in seinen Memoiren fest. 1938 hatte der deutsch-jüdische Rechtsanwalt aus Frankfurt fliehen müssen und war in Rolândia/Paraná zu einem erfolgreichen Kaffeepflanzer geworden. Seine Worte spiegeln die Meinung der Mehrheit der 16.000 bis 19.000 deutschsprachigen Flüchtlinge des Nationalsozialismus wider, die zwischen 1933 und 1945 trotz der äußerst restriktiven Immigrationsbestimmungen, die das diktatorische Regime von Getúlio Vargas in jenen Jahren insbesondere gegenüber Juden anwandte, in Brasilien Zuflucht fanden.

Die große Mehrheit davon ließ sich in Rio de Janeiro, São Paulo und Porto Alegre sowie in den landwirtschaftlichen Siedlungen in den südlichen Bundesstaaten nieder, weshalb es in Brasilien kein wirkliches Zentrum des deutschsprachigen Exils gab. Doch die landwirtschaftliche Siedlung Rolândia nimmt eine wichtige Rolle als verbindende Kraft für das deutschsprachige Exil in Brasilien ein. Nicht zuletzt dank des mutigen Engagements des seinerzeit jüngsten Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei, Johannes Schauff, der in diesem Projekt neben dem früheren Vizekanzler und Reichsinnen- und -justizminister Erich Koch-Weser und dem Tropenlandwirt Oswald Nixdorf die führende Persönlichkeit von deutscher Seite aus war, wurde Rolândia zu einem rettenden Refugium für zahlreiche „rassisch“ und/oder politisch Verfolgte.

Da Brasilien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch sehr stark von der französischen Kultur und Denkweise beeinflusst war, wurden die vor dem Nationalsozialismus geflohenen Intellektuellen, Publizisten und Künstler beinahe zwangsläufig zu Vermittlern der mitteleuropäischen Kultur, insbesondere natürlich der deutschen. Sie setzten in verschiedenen künstlerischen Genres und Unternehmenszweigen neue Impulse. Bedeutende brasilianische Intellektuelle und Künstler suchten von Anfang an den Gedankenaustausch mit ihren deutschen Kollegen, wie z. B. Augusto Meyer, Carlos Drummond de Andrade, Carlos Lacerda, Gilberto Freyre, Graciliano Ramos, José Mindlin, Lasar Segall, Mario de Andrade, Rachel de Queiroz, Samuel Wainer, Sérgio Buarque de Holanda und Tarsila do Amaral.

Die mehrheitlich vom Expressionismus beeinflussten Maler, Bildenden Künstler, Graphiker, Holzschnittkünstler und Zeichner Alice Brill Czapski, Erich Brill, Gisela Eichbaum, Henrique Boese, Fred Jordan, Hilde Weber und Walter Lewy leisteten ihren Beitrag dazu, dass sich ein stärkeres Bewusstsein für moderne Kunst in Brasilien entwickelte. Die Musiker Ernst Mehlich, Fritz Jank, Hans Joachim Koellreutter und Henry Jolles machten die moderne Musik und neue Interpretationsweisen klassischer Orchestermusik in Brasilien bekannt. Ohne Aufgabe ihres kulturellen europäischen Bildungshintergrundes vermochten es die Künstler und Musiker, die Charakteristika der brasilianischen Kultur in ihren Werken aufzugreifen und die zukünftigen Künstlerund Musikergenerationen zu prägen. Die Fotografen Alice Brill Czapski, Curt Schulze, Fredi Kleemann, Hans Günter Flieg, Heinrich Joseph (Hejo), Hildegard Rosenthal und Peter Scheier modernisierten und etablierten das Genre in Brasilien, wobei sie in ihren Werken eindrucksvoll die Entwicklung São Paulos zum Wirtschaftsmotor und zur Weltmetropole festgehalten haben.

Mit ihrer Art des essayistischen Schreibens setzten die exilierten Journalisten neue Maßstäbe in der brasilianischen Presse. Neben Otto Maria Carpeaux und Anatol Rosenfeld gelang es Ernst Feder, Frank Arnau und Richard Lewinsohn, sich mit Veröffentlichungen zu kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Themen auch im Exilland einen Namen zu machen.

Das Exil in Brasilien ging ebenfalls in die Literatur beider Länder ein. Neben dem untrennbar mit dem deutschsprachigen literarischen Exil in Brasilien verbundenen Namen Stefan Zweig, dessen Lobeshymne auf sein Exilland das Bild vom Land der Zukunft maßgeblich geprägt hat, haben nicht wenige Autoren ihre Erfahrungen literarisch in Gedichten, Theaterstücken, Romanen, autobiographisch gefärbten Reisebüchern und Memoiren verarbeitet. Dabei bedienten sich einige nicht nur der Sprache, sondern auch kultureller Elemente des Exillands. Stellvertretend für viele andere seien an dieser Stelle Ulrich Becher, Luise Bresslau-Hoff, Marte Brill, Carl Fried, Alfredo Gartenberg, Richard Katz und Karin Schauff genannt.

Als Kulturvermittler besonderer Art wirkten die Übersetzer, unter denen Herbert Caro eine herausragende Rolle einnimmt, weil er Werke von Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Hermann Broch, Elias Canetti und Hermann Hesse ins Portugiesische übertrug. Im Bereich des Theaters ist neben Anatol Rosenfeld auch Eva Sopher zu nennen, die für ihre Arbeit als langjährige Direktorin des Theatro São Pedro und des größten Theater- und Bühnenkomplexes in Lateinamerika Projeto Multipalco Theatro São Pedro in Porto Alegre bereits mehrfach international ausgezeichnet wurde.

Die exilierten Geistes- und Naturwissenschaftler beeinflussten die brasilianische Wissenschaft und Forschung nachhaltig und wirkten bei der Einrichtung und dem Aufbau von Fachgebieten in Institutionen wie der Universidade de São Paulo mit. An dieser Stelle sind die Psychoanalytikerin Adelheid Koch, der Biologe Friedrich Brieger, die Zoologen Ernst Bresslau und Ernst Marcus, die Chemiker Heinrich Hauptmann, Karl Heinrich Slotta und Fritz Feigl, der Pharmazeut Richard Wasicky sowie der Wirtschaftswissenschaftler Richard Lewinsohn zu nennen.

Die deutschen Flüchtlinge erwiesen sich ebenfalls als erfolgreiche Unternehmensgründer wie Siegfried Adler, der mit Brinquedos Estrela bald zu den führenden Spielzeugherstellern des Landes gehörte, und die Familie Herz, deren Livraria Cultura den Grundstein für eine neue Art von Buchhandlung legte. Hans Stern machte eine internationale Karriere, indem er ein weltweit anerkanntes Juwelierunternehmen aufbaute: H. Stern. Mit der Gründung der Congregação Israelita Paulista (CIP) in São Paulo und der Sociedade Israelita Brasileira de Cultura e Beneficência (SIBRA) in Porto Alegre 1936 und der Associação Religiosa Israelita (ARI) in Rio de Janeiro 1942 schufen die deutschjüdischen Flüchtlinge religiöse Gemeinden, die die Riten und Traditionen ihrer Heimat bewahrten. Diese Gemeinden stellten ihren Mitgliedern eine umfangreiche soziale Infrastruktur zur Verfügung, um ihre Integration in die brasilianische Gesellschaft zu unterstützen. Heute gehören sie zu den größten der jeweiligen Städte und besitzen einen maßgeblichen Einfluss auf das jüdische Leben des Landes.

Dank seiner starken gesellschaftlichen Assimilationswirkung ist Brasilien für die meisten der Flüchtlinge ein dauerhaftes Heim geworden. Aber einige der vor dem Dritten Reich politisch tätigen Flüchtlinge beschlossen nach Kriegsende, am Wiederaufbau der alten Heimat mitzuhelfen. Sie blieben jedoch eng mit ihrem Zufluchtsland verbunden, wie Hermann Matthias Görgen. Durch sein couragiertes Handeln hatte er noch 1941 einer Gruppe von 48 Flüchtlingen – darunter Ulrich Becher, der spätere erste Ministerpräsident des Saarlandes Johannes Hoffmann und der zusammen mit Carl von Ossietzky im Weltbühne- Prozess angeklagte Journalist Walter Kreiser– die lebensrettende Flucht nach Brasilien ermöglicht. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Görgen unter der Regierung Adenauer unter anderem Sonderbeauftragter für Brasilien. 1960 gründete er die heute noch erfolgreich aktive Deutsch-Brasilianische Gesellschaft. Gilberto Freyre nannte ihn einmal „das größte Geschenk Adolf Hitlers an Brasilien“.

Heute sind die Nachkommen der Exilanten vollkommen in die brasilianische Gesellschaft integriert. Ruben Oliven, Cao Hamburger, Michel Laub, Rafael Cardoso, Thomas Traumann und Beto Scliar lassen in ihrer Arbeit das Kulturerbe und ihre Erfahrungen als Nachkommen deutscher Exilanten einfließen. In diesem Sinne lässt sich für die große Mehrheit der Flüchtlinge des Nationalsozialismus und ihre Familien mit den Worten von Richard Katz feststellen: „Das Schicksal wollte mir wohl: ich suchte eine Zuflucht, und ich fand eine Heimat…“