Albert von Brunn / Ligia Chiappini

Otto Maria Carpeaux: Eine kafkaeske Flucht aus Europa

Otto Maria Carpeaux: Eine kafkaeske Flucht aus Europa
Titelbild des Buches As Revoltas Modernistas na Literatura

Otto Maria Carpeaux wurde als Otto Karpfen am 09.03.1900 in Wien geboren und stammte aus einer kosmopolitischen jüdischen Bürgerfamilie, die von der Inflation ruiniert worden war. Er studierte Philosophie in Wien, Mathematik in Leipzig, Soziologie in Paris, Vergleichende Literaturwissenschaft in Neapel und Politologie in Berlin, bevor er 1925 sein Studium mit einem Doktorat in Chemie abschloss. Um 1930 konvertierte er zum Katholizismus und setzte sich in der katholischen Presse für privilegierte Beziehungen zwischen seiner Heimat und der Römisch-Katholischen Kirche ein. Gleichzeitig bekämpfte er den Anschluss, die Annexion Österreichs durch Deutschland, die am 12.03.1938 bittere Wirklichkeit wurde. Dies führte zum jüdischen Exodus aus Österreich und somit auch von Carpeaux, der Hals über Kopf fliehen musste, um nicht verhaftet und in ein Konzentrationslager gesperrt zu werden. Er zog zunächst nach Italien (17.03.1938), suchte Zuflucht in der Schweiz und ließ sich anschließend in Belgien nieder. Angesichts der unaufhaltsamen Expansion der Nazis beschloss Carpeaux, Europa zu verlassen. Dabei galt es, beträchtliche bürokratische Hindernisse zu überwinden, denn ab 1937 begann Brasilien, die jüdische Einwanderung zu drosseln. Doch die Vargas-Regierung legte großen Wert auf gute Beziehungen zum Vatikan und Carpeaux verfügte über Kontakte zur Kirchenhierarchie. So erlangte er schließlich am 27.07.1939 das ersehnte Brasilien-Visum für sich und seine Frau.

Einmal in Brasilien angekommen, hatte der Einwanderer mit allerlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Die erste Hürde war bürokratischer Natur: der noch nicht naturalisierte Ausländer wurde genauestens kontrolliert und sein Albtraum war der Verlust der carteira. Das andere Problem war die portugiesische Sprache: in mehreren brasilianischen Teilstaaten war die deutsche Sprache während des Krieges verboten. Die brasilianische Elite sprach zwar zumeist fließend Französisch, doch nur selten Deutsch. Die meisten Deutschen und Österreicher lernten trotz aller Anstrengungen nie richtig Portugiesisch. Carpeaux jedoch schaffte den Einstieg in die Sprache von Camões: ein Jahr nach seiner Ankunft schrieb er bereits für den Correio da Manhã und eroberte sich mit seinen Feuilletons ein anspruchsvolles brasilianisches Publikum, das lebhaft interessiert war an der mitteleuropäischen Kultur, die Carpeaux so gut kannte. Einer der ersten Autoren, über die er schrieb, war Franz Kafka. Schritt für Schritt eroberte er sich einen Platz in der brasilianischen Presse und an den Universitäten des Landes. Als einziger deutschsprachiger Essayist veröffentlichte er während des Krieges zwei Bände mit Kritiken: A cinza do Purgatório (Die Asche des Fegefeuers, 1942) und Origens e fins (Anfang und Ende, 1942). Die bedeutendsten brasilianischen Intellektuellen seiner Zeit, darunter Carlos Drummond de Andrade, Sérgio Buarque de Holanda und Álvaro Lins erwirkten 1944 die vorzeitige Einbürgerung des österreichischen Immigranten und Kritikers Carpeaux, ein seltenes Privileg.

Carpeaux schrieb für ein anspruchsvolles, literarisch gebildetes Publikum, das heute nahezu verschwunden ist. Die traumatischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus führten zu einer zweiten Konversion. Als junger, militanter Katholik hatte er in seinem Buch Wege nach Rom (1934) den Katholizismus als Weltanschauung verteidigt, in Brasilien beschäftigte er sich nach 1940 mit den Autoren, die die Krise dieser Weltanschauung zum Thema hatten: Franz Kafka, Claude Mauriac und Graham Greene. Otto Maria Carpeaux durchlief einen Prozess der Säkularisierung, ließ die alten Gewissheiten hinter sich, seine österreichischbarocke katholische Weltsicht und durchlebte die Krise dieser Werte in Kunst und Literatur. „Otto Maria Carpeaux hätte werden können, was immer er wollte – Wissenschaftler, Hochschullehrer, Kunst-, Musik- oder Literaturkritiker, Politiker oder Ideologe“, schrieb Antonio Candido in einem Nachruf (“Dialética apaixonada”). „Doch er musste unter dem Druck des Nationalsozialismus seine Heimat Österreich verlassen und wurde eine Art Polyhistor, ein Held der Zivilisation“. Als Carpeaux in die Neue Welt reiste, musste er sich mit einem Kulturschock zwischen zwei Welten – Europa und Amerika – und mit zwei verschiedenen Modellen einer konservativen Modernisierung auseinandersetzen: Österreich und Brasilien. So entstand auf halbem Weg zwischen einem militanten Katholizismus in der Heimat und einem erneuerten politischen Engagement in Brasilien eine unvergessliche Serie von Essays, die eine ganze Generation von brasilianischen Intellektuellen und Schriftstellern formten und zum Denken anregten.

Ligia Chiappini

Wenn Carpeaux sich in einer ersten Phase vor allem der Aufgabe widmete, die großen europäischen Schriftsteller breiter bekannt zu machen, dauerte es jedoch nicht lange, dass er auch Texte brasilianischer Schriftsteller, hauptsächlich des 20. Jahrhunderts, zu kommentieren begann. Damit etablierte er sich im Laufe der Zeit auch als eine wichtige Referenz für die brasilianische Kritik (s. Bosi 1988). Doch vielleicht ist es angemessener, ihn als einen Kulturmittler zu sehen, der nicht nur bedeutende Vertreter der europäischen Hochkultur dem brasilianischen Publikum näherbrachte, sondern auch den Prozess der Aufnahme von Werken der brasilianischen Literatur in die Weltkultur förderte. Die transkulturelle Perspektive erlaubte es ihm in Europa, als einer der ersten den literarischen Wert Kafkas zu erkennen, wie sie es ihm in Brasilien erlaubte, sowohl einen bereits anerkannten Dichter wie Carlos Drummond de Andrade zu schätzen als auch den ganz und gar nicht kanonischen Augusto dos Anjos, der vor ihm eher als geschmacklos galt. Er hat somit in Brasilien zur Erweiterung des literarischen Repertoires beigetragen, doch ebenso half er, die Unkenntnis und selbst Geringschätzung der brasilianischen Literatur im Ausland zu überwinden.

Die monumentale História da Literatura Ocidental (Geschichte der westlichen Literatur) zeugt von großer Gelehrtheit verbunden mit einer beachtlichen Fähigkeit zur Deutung der Einzelwerke im Rahmen ihres jeweiligen Kontexts und theoretischer Diskussion von Problemen der Literaturgeschichte. Auf diese Weise vermag er es, klare Stellung zu Fragen zu beziehen, die bis heute sehr aktuell sind, darunter vor allem die Frage danach, wie die Geschichte der Stile und Formen mit den lokalen, nationalen und globalen soziokulturellen Prozessen zusammenhängt. Für Alfredo Bosi besteht seine einzigartige Leistung im Bereich der Literaturkritik und -geschichte darin, die brasilianische Kultur über ihren gegebenen Horizont hinaus bewegt zu haben, um ihr „die tiefen Wasser der westlichen Tradition“ zu erschließen. Carpeaux markiere „den Beginn einer Trennungslinie zwischen begrenzteren, nicht selten provinziellen Lektüreweisen und einem mächtigen kritischen Bewusstsein von Literatur als einem im Leben und in der Geschichte der Gesellschaft verwurzelten System, mächtig deshalb, weil es eine Pädagogik, eine Konzeption, eine Methode verkörpert.“ Dies führt dazu, die Beziehungen zwischen Text und Kontext ohne die Einseitigkeit vieler Soziologen und Historiker zu behandeln und, indem man die Vorstellung von Literatur als bloßem Reflex oder Spiegel des Gesellschaftlichen überwindet, die Spannung zwischen dem Dichter und seiner Welt anzuerkennen. Dabei ist die Aktualität des Problems zu beachten, das theoretisch zwar leicht zu fomulieren sein mag, doch in der Praxis nur sehr schwierig zu lösen ist. Schaut man die verschiedenen Bände dieser Literaturgeschichte oder die Essays von Carpeaux durch, erkennt man, dass dieser Mann, da er vieles aus seiner Tradition verloren hatte, neu ergründen musste, was sich zu retten lohnte, angefangen beim Begriff der Tradition selbst, verstanden als Auswahl und als Taktik. Demzufolge habe sie eine pädagogische Dimension und lehre uns, „die Kontinuität zu den Erfahrungen der Vergangenheit zu bewahren und die Erfahrungen auszuwählen, die uns helfen, das Dauerhafte im Unbeständigen der kurzen Zeit unseres Lebens zu erkennen.“

Der Anbruch der Diktatur 1964 erschütterte allerdings auch dieses ausgewählte Erbe, zumindest was die Literatur anbelangt, da Carpeaux sich von ihr abwendet, um sich dem militanten Engagement zu widmen. Es ist dies eine rätselhafte Geste, doch interpretierbar nicht als eine Zurückweisung der Literatur, sondern als neue Herausforderung zur Wiedergewinnung des öffentlichen Charakters der Literatur und der Kritik selbst, der pädagogisch-politischen Funktion, die, in der Presse bereits verloren, heute sich auch in der Universität zu verlieren droht, im Dienst wissenschafts- und kunstfremder Interessen. Gegen den extremen Pragmatismus dieser Universität und die extreme Banalisierung des Wissens in einer Welt, wo „die bloßen Gesinnungen“ regieren, regt Carpeaux noch immer unseren Willen (und unsere Pflicht) an, weiterhin kritisch zu wählen und zu beurteilen, achtsam gegenüber den verkehrten und richtigen Seiten der Werke, der Ideen und der Werte – in Brasilien und außerhalb.